Ohne Zu Hinzusehen Poem by Wolfgang Steinmann

Ohne Zu Hinzusehen

Entweder beim Anblick der sechzehnjährigen
Tochter meines Freundes, abelegt
in der Morgue, ihr blutiger
Pulli an ihrer zerfetzten Brust
klebend, (schnell von mir identifiziert
ehe ich wegrannte)

oder beim Anblick des gepflegten Greises
in seinem Wohnzimmer mit Schläuchen, Sabber
über seinem spärlichen Bart
laufend, (gerade noch so
beim Wegblicken von mir
bemerkt) - wie

konnte ich, um halb sechs, einen
Drink in der Hand, (beim geringsten
Anzeichen von Schmerz juckt es uns,
uns abzuwenden, andere wieder drehen sich
im Schlaf auf die andere Seite,
seufzen) , wir haben Glück,

alles einfach so übersehen,
schnell umkehren zu können,
zurück zu unseren Büchern,
überhaupt, Bücher zu haben,
dass es schwer ist direkt,
vor sich zu schauen,
ist nicht oft genug

gesagt worden, ist das Gebet
ein Moment der Zuwendung
an gefallene Nähte, Blut,
das an den Schläuchen hängt,
das Gedicht? Ich sagte,
was bereitet auf das vor,
was uns nicht retten kann?

(nach Patricia Goedicke: Without Looking)

This is a translation of the poem Without Looking by Patricia Goedicke
Sunday, February 21, 2016
Topic(s) of this poem: death,indifference
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